U20-WM: Innenansichten aus Bydgoszcz - Freitag

Logo U20-WM in BydgoszczIch bin noch immer vom gestrigen Abend ganz beeindruckt. Das Dreisprungfinale war obergärig gebraut. Hunderte Zuschauer fanden sich vor der Sprunggrube ein, klatschten die Sprünge ein und jubelten bei den Ergebnissen mit. Mitten drin Philipp Kronsteiner. Er war schon Stunden vor dem Bewerb auf Volldampf-Modus. Silvio Stern, sein Trainer mit inflationsgesicherter Leidenschaft, stand zur Betreuung nahe an der Sprunggrube.

Dann ging es für Philipp mit zwei Supersprüngen los. 16.11m der erste, 16.20m der zweite Sprung. Man brauchte kein Doktor im Gscheit sein zu sein, um zu erahnen, dass Philipp noch mehr wollte. Er war in den Sprungpausen ständig in Bewegung und in Feelgoodtrance. Dann der dritte Sprung. Ein erster riesiger Satz, ein hoher Step und eine vorbildliche Landung. Ganzkörper-Gänsehaut. Der letzte Abdruck im Sand lag weit über der 16-m-Marke. Endlich wurde das Ergebnis aufgezeigt: 16,25m! Grandios. Damit übertraf er in diesem Wettkampf seine bisherige Bestleistung um 32cm und belegt den vierten Platz. Bei einer Weltmeisterschaft wohlgemerkt. Von den österreichischen Rekorden, die er damit brach, will ich gar nicht schreiben.

Silvio und Philipp umarmen sich. Es muss toll sein, als Trainer einen derartigen Erfolg mit seinem Schützling einzufahren. Silvio ist auch ehrlich und realistisch, als er sagt: „Wir haben nicht die Bronzemedaille verspielt, sondern einen vierten Platz gewonnen. Darüber freue ich mich.“

Die Abende mit den Betreuern sind für mich ein besonderer Leckerbissen. Sie dauern meist bis zur Datumswende, sind ernst und lustig zugleich und beugen trinkmäßig vor, sollte demnächst eine große Dürre in Polen ausbrechen. Dietmar Millonig ist ein wandelndes Lexikon, kennt die Zeiten und Weiten ziemlich aller Erd- und Marsathleten und analysiert die Leistungen treffsicher und einleuchtend.

Sarah Lagger wird morgen die Goldene machen“, prognostiziert er ohne Umschweife. Silvio und Martin Zanner geben ihm Recht. Es ist keine Bauchprognose, sondern alle drei untermauern ihre Vorhersage mit ihrem Panoramawissen über die gesamte Meldeliste.

Karin Strametz hatte gestern ein besonderes Erlebnis, als sie ihren Rucksack bei der Fahrt zum Stadion bei der Bushaltestelle liegen ließ. Die Sportsachen waren nicht drin, aber andere persönliche und nützliche Dinge. Ein ehrlicher Mensch gab den Rucksack ab. Er gelangte in einer Stafette bis zum Stadion und wieder in Karins Besitz. Nicht einmal die Cobra-Abteilung aus Wien musste zu Hilfe gerufen werden.

Sarah Lagger sprang 5,95m im WeitsprungHeute macht Karin vor dem Weitspringen im Siebenkampf einen Side-Step zum 100-m-Hürdenlauf. Sie ist gestern 13,74sec. gelaufen, was aber wegen vermehrtem Rückenwind als Bestleistung nicht zählte. Karin startet im vierten Vorlauf auf Bahn sechs und verbucht einen persönlichen Rekord mit 13.97sec. Den Aufstieg ins Semifinale verpasst sie aber.

Der Weitsprung der Siebenkämpferinnen bringt wieder Adrenalin ins Gewebe. Sarah Lagger und Karin Strametz nehmen uns ins Gefühlskasino mit. Nach einem Sicherheitssprung liefert Sarah eine Übertretung ab. Der dritte Sprung ist dann mit 5.95m zweckdienlich für einen Medaillenrang. Karin beginnt mit einem Fehlversuch, setzt aber dann gute 5.84m in die Grube, der dann wieder eine Übertretung folgt. Damit bleiben unsere beiden Heptathlon-Queens gut im Rennen. Lagger ist nach fünf Bewerben Zweite und Strametz hat sich wieder nach oben gearbeitet. Sie belegt den 11. Platz.

Gerade als Carina Pölzl zu ihrem 200-m-Vorlauf ins Stadion kommt, nimmt die Sonne Urlaub. Carina ist Österreichs U23-Meisterin über die 100m und 200m und hat 2015 auch die Staatsmeisterschaft der Allgemeinen Klasse über die 200m  gewonnen. „Ich kann nicht mehr als mein Bestes geben. Der Aufstieg ins Halbfinale wäre mein Traumziel“, sagt Carina und lässt sich von Michi Drnek den Fuß stabilisieren.

Dann steht sie im fünften Vorlauf auf der Bahn. Startschuss, Carina kommt gut aus der Startmaschine und läuft ein tolles Rennen. Da sie die Innenbahn hat und die Israelin neben ihr fehlt, liegt Carina scheinbar zurück. Auf den letzten 50m schiebt sie sich immer näher an den Pulk heran und geht mit 23.93sec. durchs Ziel. Das bedeutet Aufstieg ins Semifinale durch die Zeitregel. Ich überlege im Medienzentrum bereits einen Tischtanz, blase ihn dann aber wieder ab.

„Ich bin gut ins Rennen gekommen, am Ende ging mir jedoch ein wenig die Kraft aus. Der getapeten Fuß hat mich aber nicht behindert“, sagt eine glückliche Carina. Ob ein Q oder q oder ein Q-Quadrat hinter der Zeit steht, ist mir völlig egal. Carina hat sich als 16te für das Halbfinale um 21.30 Uhr qualifiziert, und das zählt für ihre Sportbiographie.

Karin Strametz beim Speerwurf im SiebenkampfDer Speerwurf der Siebenkämpferinnen bringt für Karin und Sarah neuerlich zwei persönliche Bestleistungen: 39.59m und 43.65m. Jetzt wird es spannend. Lagger liegt mit 64 Punkten Rückstand auf dem zweiten Gesamtrang. Strametz ist Zwölfte. Der abschließende 800-m-Lauf hat jetzt sicher mehr mit Geißelung als mit Fun zu tun. „Ich denke, die Kubanerin wird sich an mich dran hängen, und dann weiß ich nicht, wie ich reagieren werde“, sagt mir Sarah in der Mittagspause.

Nun geht es ans Bruch- und Schlusssatzrechnen. Die Zeiten von Sarah und ihren Konkurrentinnen werden hin und her verglichen. Die Gretchenfrage lautet, wie viele Sekunden muss Sarah vor der führenden Kubanerin Adriana Rodriguez ins Ziel kommen, um sie im Klassement zu überholen. Dietmar Millonig braucht keinen Rechner. Er weiß auswendig, dass die Kubanerin auf 800m keine 10 Sekunden schneller sein kann, als sie bisher war. Er bleibt dabei. Sarah wird die Weltmeisterschaft gewinnen.

Um 19.08 Uhr geht vorerst Karin Strametz auf den Zweirunder. Sie ist gemäß Liste die Schnellste ihres Laufes und beweist das auch eindrucksvoll. Sie enteilt von Beginn an dem Feld und hat bei 600m vierzig Meter Vorsprung vor allen anderen. Nach dem Endspurt bleibt die Uhr bei 2:18min. stehen. Damit nimmt Karin am Ende den phantastischen siebenten Rang im Gesamtklassement ein. Genau das hat Martin Zanner gestern prognostiziert.

„Ja, jetzt geht es mir wieder gut. Nach dem Hochsprung habe ich meine Träume auf einen Podestplatz begraben müssen. Aber die anderen Leistungen haben mich wieder versöhnt“, sagt sie und hüllt sich in die rotweißrote Fahne ein. Für mich ist sie sowieso eine Heldin.

Carina Pölzl im 200m SemifinaleUm 19.16 Uhr startet Sarah Lagger im Lauf der Medaillenanwärterinnen. Das hat eine Runde lang einen Hitchcock-Effekt. Die Kubanerin bleibt tatsächlich an Sarah dran, wie angekündigt. Man könnte zum Nägelbeißer werden. Doch dann gibt Sarah Gas, und Rodriguez verliert immer mehr an Boden. Eine Hilfe ist nun auch die Belgierin Maudens und eine Norwegerin. Die machen auf der Zielgeraden enorm Tempo, und Sarah geht mit ihnen mit. Hinten findet nur mehr das Restlessen statt. 2:15,97min. für die 16-jährige Sarah, womit sie die Goldmedaille für sich und Österreich holt. Unglaublich. Der 22. Juli sollte in den Rang eines Feiertages erhoben werden. Wäre es nicht ein religiös abgenudelter Begriff, würde ich von einem Wunder schreiben. Und nicht zu vergessen: Didi Millonig hat Recht behalten.

Auch Dominik Hufnagl legt im Semifinale über die 400m-Hürden einen phantastischen Lauf hin. Er wird Fünfter und fixiert mit 51.04sec. eine persönliche Bestzeit. Hallelujah.

Um 21.00 Uhr wird dann noch Carina Pölzl im Halbfinale des 200-m-Laufes anzufeuern sein. Sie hat uns schon einmal überrascht. Vielleicht gelingt ihr das noch einmal. Für heute beschreibt Louis Amstrong meinen Seelenzustand am besten: And I think to myself what a wonderful world.

Fotos: Jean-Pierre Durand
 

ÖLV | 22.07.2016 (Herbert Winkler)

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