U23-EM: Innenansichten aus Tallinn – Samstag

Der gestrige Tag war sportlich zwischen Auslese und Spätlese. Die großartigen Leistungen und Platzierungen hatten lourdesartigen Erlösungscharakter. Dieser Spirit hat sich bis heute gehalten. Waren gestern noch die Eindrücke emotional gut geschmiert, bestimmt heute die Ratio die Gespräche.

Die Trainer sitzen mit ihren Athletinnen und Athleten beisammen und analysieren nochmals die Wettkämpfe. Alle sind gut gelaunt, und die Analysen fallen durchwegs positiv aus. Das Gesamtergebnis der rotweißroten Mannschaft ist sensationell ausgefallen. Viel glatt und nichts verkehrt.

Logo - European Athletics U23 ChampionshipsAber natürlich geht es bei den Athletinnen und Athleten auch um das Hättitättiwari und etwaige vergebene Möglichkeiten. Es wird über Hürdenberührungen, über das Pech von Übertretungen beim Weitsprung oder über die Windverhältnisse im Stadion debattiert. Drei Zehntel schneller oder siebzig Zentimeter weiter und …

Solche Gespräche haben reinigenden Charakter. Sie sollten aber die Topleistungen nicht relativieren. Glücklich all jene, die sich über ihre Performance freuen können und sich nicht in der Möglichkeitsform verheddern. Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft die große Chance.

Im Medienzentrum war zu beobachten, dass U23-Meisterschaften andere journalistische Gesetze haben. Bei Welt- oder Europameisterschaften der „Erwachsenen“ sind für die großen Textschreiber nur die Würdenträger der Gold-, Silber- und Bronzemedaillen interessant. Die in der Hitliste weiter hinten Gereihten haben meist nur den Status eines Wimper- oder Rädertierchens. Sie sind kaum die Druckerschwärze wert.

Ivona Dadic bei der SiegerehrungBei U23-Meisterschaften finden auch Athletinnen und Athleten Beachtung und Anerkennung, die in den Ergebnislisten im hinteren Feld landen. Meine journalistischen Nachbarn haben sich mehrmals über einzelne österreichische Athletinnen und Athleten erkundigt und den Daumen nach oben gedreht. Es könnte ja sein, dass U23-Akteure schon bald großes Kino zeigen und eine fette Schlagzeile ergeben. Ich habe sie nur bestärken können.

Morgen ist für uns nochmals ein spannender Tag. Die 4 x 400m Staffel der Frauen in der Besetzung Alexandra Toth – Ivona Dadic – Verena Preiner und Carina Schrempf werden am Abend noch ein gutes und nützliches Resultat erlaufen. Es sind acht Mannschaften genannt, die um die Plätze kämpfen werden.

Aus dem Paralleluniversum eines Schreibers mit naturvergorener Leidenschaft ist schon jetzt das Resümee ein Hochstimmungsbericht. Eine Bronzemedaille, vierte, zehnte, zwölfte oder vierzehnte Plätze sind Gießwasser für die Zukunft der österreichischen Leichtathletik. Man kann den Talente-Humus gut riechen. Keine dieser Platzierungen war ein Schnäppchen, und bei einer Heimhörerfrage unter den ÖLV-Insidern hätte niemand ein derart tolles Ergebnis erwartet. Dazu ist allen zu gratulieren, die hier Backstage, im Souffleurkasten oder auf der Bühne agiert haben.

Und ich schaue jetzt, ob es hier irgendwo in Tallinn ein Mineralwasser zum Feiern gibt. Es muss nicht einmal alkoholfrei sein.

Foto: ÖLV / Coen Schilderman

Herbert Winkler

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