Innenansichten aus Prag - Samstag

Der Morgen in Prag präsentiert sich prächtig. Blauer Himmel im 360-Grad-Radius. Wie immer finden sich die Frühaufsteher unter den Trainern beim Frühstück zusammen und besprechen den gestrigen Tag. Der Tratsch ist wichtig und fällt unter das Kapitel Katharsis. Dabei ist die Schnittmenge der gemeinsamen positiven Erlebnisse größer als die der negativen. Obwohl die einzelnen Trainer verschiedene Disziplinen betreuen, sind sie eine verschworene Gemeinschaft. Wenn Jenni Wenth heute noch einen Platz unter den ersten zehn erreicht, wird die Europameisterschaft als Steigerung gegenüber der letzten gesehen.

Um 10 Uhr bin ich wieder im Stadion. Beim Eingang in die Arena stehen die Zuschauer Schlange. Sie werden wie auf einem Flughafen überprüft. Mit Spiegeln wird unter die Autos geblickt, und Flüssigkeiten darf man auch nicht mitnehmen. Die O2-Arena wurde für die Eishockey-Weltmeisterschaft 2004 gebaut und fasst 17.000 Zuschauer. Für Leichtathletik-Veranstaltungen hat sie Nachteile. Man kann nicht das gesamte Stadionrund überblicken und sieht daher nicht alle Anzeigetafeln. Die Journalisten wie auch die zuschauenden Sportler sind auf die obersten Ränge verbannt. Von dort sieht man das Geschehen wie aus der Vogelperspektive.

Vorerst bestreiten die Frauen ihre Vorläufe über die 60 m. Da purzeln gleich eine Menge persönlicher Bestleistungen. Die deutsche Europameisterin von Barcelona, Verena Sailer, läuft 7,10 Sekunden, Asher-Smith, Junioren-Europameisterin aus Großbritannien, ebenso. Dafne Schippers, doppelte Europameisterin aus den Niederlanden, bringt 7,07 Sekunden ins Ziel. Sie alle loben den „Schwingrhythmus“ der Bahn.

Bei den Männern gibt es gleich im ersten Vorlauf einen Fehlstart und die Disqualifikation eines Griechen. Im zweiten Vorlauf sitzt dann Staatsmeister Markus Fuchs auf Bahn vier in der Startmaschine. Bei der Recherche seiner DNA stellt sich heraus, dass sein Vater einmal viel schneller als er war. Er war allerdings Eisschnellläufer. Markus wird heuer 20 Jahre und hat über die 60 Meter 6,80 Sekunden zu Buche stehen. Diese Zeit zu verbessern, ist sein Ziel.
Der Start gelingt ihm gut, und dann trommelt er los. Umgeben von Spitzenläufern aus ganz Europa kommt er als Sechster ins Ziel und wird mit 6,85 Sekunden gestoppt. Viktoria Schreibeis ist mit der Leistung zufrieden. Markus hat eine gute Vorstellung geliefert. Wie im Leben gilt auch im Sport der Spruch von Hermann Hesse: Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.

Über Mittag wird es in Prag warm. Der Frühling schaut schon um die Ecke. Die Stadt, die einst zum Reich der Habsburger gehörte, hat kulturelle Dichte. Hier wurden Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Franz Werfel geboren. Auch die erste Außenministerin der USA, Madeleine Albright, kommt aus der Moldaustadt und ist erst später zum Potomac River nach Washington übersiedelt. Ein Spaziergang in der Altstadt bereichert das Geschichtswissen in hohem Maß.

Im Stadion werde ich Zeuge einer besonderen Attraktion. Nachdem Renaud Lavillenie mit 6,04 Meter im Stabhochsprung einen Meisterschaftsrekord aufgestellt hat, lässt er sich die Hallen-Weltrekordhöhe von 6,17 Meter auflegen. Bei solch einem Event live dabei zu sein, ist eine Gnade. Er scheitert zwar drei Mal, gestaltet aber alle Sprünge hoffnungsfroh. Ganz großes Kino.

Am Abend läuft sich nochmals Jennifer Wenth warm. Nach dem Start reiht sie sich am Ende des Feldes ein. Der Abstand nach ganz vorne ist etwa 10 Meter. Während sich bei den ersten acht Läuferinnen vier Pärchenläufe entwickeln, kann Jenni hinten ungestört ihre Runden ziehen. Sechs Runden vor Schluss ist das Feld noch immer dicht beisammen und Jenni macht den Schluss. Dann wird es plötzlich hektisch in der Kolonne, und das Feld zieht sich auseinander. Jennifer erhöht ebenfalls das Tempo und beginnt jetzt zu überholen. Großartig wie sie den gestrigen Tag wegsteckt. Drei Runden vor Schluss liegt sie auf dem 10. Rang und bleibt weiter sekkant. Ich bin einstweilen ein Fall für die Notaufnahme. Dann kommt die letzte Runde, in der nochmals richtig gebolzt wird. Jenni holt sich nun Platz neun und greift im Endspurt Platz acht an. Das geht sich dann aber nicht mehr aus.

Unsere Laufqueen wird Neunte dieser Europameisterschaft, bleibt unter neun Minuten und übertrifft damit alle Prognosen.

And I think to myself, what a wonderful race.

 

Herbert Winkler | 07.03.2015

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