„Wir müssen versuchen, so viele Menschen wie möglich zu erreichen“

Jean Gracia tritt 2015 bei der Wahl zum Präsident von European Athletics an. Vergangenes Wochenende war der Franzose auf Besuch in Wien, um mit der ÖLV-Spitze über die Themen für die nächsten Jahre zu sprechen.

Jean Gracia, Vizepräsident von European Athletics und Generaldirektor des französischen Leichtathletik-Verbandes, stattete vergangenes Wochenende dem ÖLV einen Besuch ab. Präsident Ralph Vallon, Generalsekretär Helmut Baudis und Sportdirektor Hannes Gruber sprachen mit dem Franzosen über die zentralen Themen für die nächsten Jahre und die Entwicklungen in der österreichischen Leichtathletik. Der 59-jährige Gracia tritt im April 2015 bei der Wahl zur Nachfolge von Hansjörg Wirz als Präsident von European Athletics an. Als weitere Kandidaten sind derzeit Svein-Arne Hansen (NOR) und Anti Pihlakoski (FIN) bekannt. Bis 10. Februar 2015 können weitere Personen nominiert werden. 2015 wird also ein Jahr mit wichtigen personellen Weichenstellungen in der internationalen Leichtathletik. Dies gilt nicht nur für die IAAF, wo im August Sebastian Coe und Sergey Bubka zur Präsidentenwahl antreten, sondern auch für European Athletics. Andreas Maier hat mit Jean Gracia anlässlich seines Besuchs gesprochen.


ÖLV: Was wissen Sie über die österreichische Leichtathletik und wie sehen Sie Österreichs Position in Europa?

Jean Gracia: Österreich ist mit vielen Themen konfrontiert. Eure Struktur ist nicht sehr stark. Es gibt nur wenige hauptamtliche Mitarbeiter. Wir brauchen neben den Freiwilligen hauptberufliche Fachleute und Profis, um die Leichtathletik über einen langen Zeitraum zu tragen und zu entwickeln. Es gibt viele Dinge zu tun in Österreich. European Athletics ist bereit zum Helfen. Ich glaube fest daran, dass man den Hochleistungssport entwickeln muss, aber daneben auch andere Bereiche braucht. Straßenlauf, Berglauf, Masters-Leichtathletik … - in manchen Ländern gibt es von Seiten des Verbandes kein Interesse daran. Der ÖLV weiß um die Bedeutung dieser Bereiche und ist darin engagiert, auch wenn er nicht alles in Händen hat. Es ist für mich sehr wichtig, in ruhiger Atmosphäre mit der Verbandsführung über Themen zu sprechen und sich auszutauschen. Niemand hat die Wahrheit und wir sind intelligenter, wenn mehrere zusammenarbeiten.

Welche generelle Rolle sehen Sie für die Leichtathletik in der Sportwelt und in der Gesellschaft?

Leichtathletik ist die Mutter allen Sports. Wer Leichtathletik betreibt, kann überall erfolgreich sein. Leichtathletik bringt phantastische Werte mit sich, die nicht jeder Sport hat – pädagogisch, sozial, für die Gesundheit. Wir müssen diese Werte stärker außerhalb unserer kleinen Welt kommunizieren. Wir müssen gegenüber der Politik, den Institutionen und Sponsoren hervorheben, wie wichtig unser Beitrag zur Gesellschaft ist. Leichtathletik ist oft hilfreicher als Medizin, und die Kosten sind viel geringer. Auf keinen Fall darf Leichtathletik altmodisch sein. Wir müssen sie nicht betreiben wie 1912, als die IAAF gegründet worden ist. In Europa ist die Struktur sehr gut. Auch wenn es viele Probleme gibt, in anderen Kontinenten sind die Probleme viel größer. Glauben Sie mir das. Wir können froh sein, in Europa zu leben. Ich würde mir aber wünschen, dass wir viel stärker vereint sind als derzeit und enger zusammenarbeiten.

Was erwarten Sie für die IAAF-Präsidentenwahl 2015, bei der Sebastian Coe und Sergey Bubka antreten?

Diese Wahl ist eine sehr wichtige Entscheidung für unsere Bewegung. Wenn Europa weiterhin stark sein will innerhalb der IAAF, müssen wir vereint sein. Es wird bei der IAAF-Wahl keinen dritten Kandidaten geben. Ich sehe niemanden, der bereit wäre anzutreten und Chancen hätte. Es gibt zwei sehr starke Kandidaten.

Der Präsident von European Athletics ist automatisch Mitglied im IAAF Council. Falls Sie gewählt werden: Was wäre Ihre erste Initiative?

Wir müssen Dienstleister der Mitgliedsverbände sein. Nicht die IAAF oder European Athletics machen die tägliche Arbeit. Wir können in Lausanne nachdenken, die Welt zu verändern, aber wenn es in den nationalen Verbänden niemand macht, sind wir tot. Wir sind bereit, den Mitgliedsverbänden zu helfen, damit sie besser strukturiert sind, und sie in ihren unterschiedlichen Herausforderungen zu unterstützen. Es gibt oft einen Kampf um Stadien zwischen Fußball und Leichtathletik. Wir müssen helfen, dass die Mitgliedsverbände Support von ihren Regierungen und Institutionen bekommen.

Welche Gründe können Sie einem talentierten, jungen Menschen geben, warum er oder sie versuchen soll, in der Leichtathletik an die Spitze zu kommen? Eigentlich spricht vieles dagegen: Es dauert viele Jahre, bis man – vielleicht – Erfolg hat. Nur wenige Athleten werden gut bezahlt. Andere Sportarten haben höheres Prestige.

Ich sehe nicht nur den Hochleistungsbereich. Es wie eine Pyramide. Wenn die Basis breit ist, kann man in die Höhe gehen, wenn nicht, kann man nicht weit nach oben kommen. Wir können den jungen Athleten nicht versprechen, dass sie Olympiasieger werden. Das wäre Nonsens. Aber wir können ihnen versprechen, dass sie ihr Maximum erreichen – dass sie Gesundheit erlangen, dass es ihnen Freude macht und dass jeder und jede ihr bestmögliches Level erreicht. Einige davon sind mehr talentiert als andere und werden vielleicht Olympiasieger. Aber ich bin nicht für ein „Kommando“, dass wir zwei Athleten rausgreifen und alles auf diese zwei konzentrieren, aber zwei Millionen andere vergessen. Vielleicht bekommen wir tatsächlich zwei Olympiasieger – aber sonst haben wir nichts. Wir müssen versuchen, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Dann können wir für einige Athleten spezielle Bedingungen schaffen, damit sie ganz nach oben kommen.

Die Zahl der Teilnehmer bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften wird reduziert, weil man damit die Bewerbe attraktiver für Besucher und TV-Zuschauer machen will. Die Qualifikationslimits gehen nach oben. Für kleinere Länder wird es damit schwieriger, Teilnehmer zu entsenden. Das bedeutet auch geringeres Interesse von Publikum und Sponsoren.

Unser Sport ist auf internationalem Level stark verknüpft mit TV-Rechten und dem Marketing. Die Haupteinnahmen von European Athletics kommen vom Fernsehen und von Sponsoren. Wir müssen darauf bedacht sein, dass das Fernsehen weiter interessiert ist. Wir müssen nicht alles machen, was das Fernsehen sich wünscht. Aber wir müssen eng mit ihnen zusammenarbeiten, um ein passendes Wettkampf-Format zu finden und das Interesse weiter zu erhalten. Auf der anderen Seite verstehe ich die Notwendigkeit, dass Länder bei großen Meisterschaften stärker vertreten sein wollen. Es ist eine Aufgabe, die wir angehen müssen. Erstens der Qualifikationsprozess. Zweitens, wie wir die Bedürfnisse des Fernsehens und die Bedürfnisse der Länder ausbalancieren können. Aber wenn wir keinen Vertrag mit Eurovision mehr haben, gibt es große Schwierigkeiten Europameisterschaften zu organisieren, weil das Geld fehlt.

Es gibt Ideen, zur Verkleinerung der Teilnehmerfelder nicht die Limits zu verschärfen, sondern die Zahl der Athleten pro Land und Disziplin auf zwei statt bisher drei zu reduzieren. Ist das ein realistischer Vorschlag?

Dieser Änderungsvorschlag wurde beim letzten IAAF Council in Bezug auf Weltmeisterschaften abgelehnt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Thema nochmals kommt.

Leichtathletik ist international in der Öffentlichkeit nur während großer Meisterschaften stark präsent. Die Diamond League Meetings sind hingegen seit Jahren nicht im Free-TV zu sehen. Welche Änderungen sollten hier angegangen werden?

Wir brauchen das Fernsehen als Einkommensquelle und auch zur Entwicklung des Sports. Der große Unterschied zwischen Leichtathletik und Fußball ist, dass man Fußball jedes Wochenende im Fernsehen sieht. Leichtathletik ist hingegen nur einmal im Jahr zu sehen. Wir müssen Wege finden, um sichtbar zu sein. Wir müssen der neuen Technologie folgen. Die Menschen nutzen weniger Fernsehen, sondern Social Media und mobile Endgeräte. Wir müssen die neuen Technologien in unsere Kommunikation integrieren und gute Kanäle finden, TV oder nicht, um die Leichtathletik zu transportieren und uns besser auszudrücken.

Die weltweit wichtigsten Meetings und sehr viele der Top-Marathons finden in Europa statt. Europäische Athletinnen und Athleten haben meist in den technischen Disziplinen Erfolg. Der Abstand im Sprint und Mittel-/Langstreckenlauf zur Weltspitze wird aber immer größer. Müssen wir uns damit abfinden?

Wir können mit der Situation nicht zufrieden sein. Es gibt zwei Lösungen: Die Läufer laufen schneller – das ist möglich, ich glaube fest daran, es gibt Beispiele. Das Zweite ist, dass wir die technischen Bewerbe besser präsentieren. Bei einem Leichtathletikmeeting gibt es immer viel Kommentar über die Läufe, aber andere Bewerbe gehen oft ohne Begleitung über die Bühne.

 

Athleten sind manchmal demotiviert, wenn sie bei Europameisterschaften gegen Athleten antreten müssen, die vor Kurzem noch für Kenia oder Äthiopien gelaufen sind. Sind die Regeln zum Nationenwechsel in Ordnung?

Die Regeln sind nicht streng genug. Ich kann das sagen, weil ich aus einem Land mit hoher Einwanderung komme. Wir bei European Athletics denken daran eine Änderung bei der IAAF vorzuschlagen, dass ein Athlet, der für ein Land bei einer internationalen Meisterschaft gestartet ist, niemals mehr für ein anderes Land starten kann. Vielleicht in außergewöhnlichen Fällen, aber nicht so, wie es jetzt gemacht wird. Das ist meine eigene Position. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass Leute Athleten kaufen, und als Mensch kann ich das überhaupt nicht unterstützen. Ich weiß nicht, ob dieser Vorschlag von allen unterstützt wird. Oft werden sehr junge Athleten zum Wechsel gebracht, bevor sie in einem Nationalteam gestartet sind. Ich habe keine fertige Lösung dafür. Aber ich will keinen Sklavenmarkt. Wir können die Immigration nicht verhindern, das ist normal heutzutage. Einige Länder sind mehr betroffen als andere, aber wir müssen es auf einem normalen Weg regeln, nicht auf kommerzielle Weise.

Mit den European Games in Baku steht 2015 ein neuer Event am Programm. Österreich wird im Zuge der Team-EM daran teilnehmen. Sehen Sie die European Games als neuen Impuls für die Leichtathletik in Europa oder als Veranstaltung, die schwierig in das Wettkampfprogramm zu integrieren ist?

Es gibt das Thema des Leichtathletik-Wettkampfkalenders. Das Problem ist, dass es keine Logik in unserem Kalender gibt. Niemand versteht ihn. Es gibt keine Story, sodass man weiß, was von Anfang April bis Ende September geschieht. Ich habe keine Wunderlösung, aber wir müssen daran arbeiten. Als das Europäische Olympische Komitee zu uns kam, um über die European Games 2015 zu sprechen, hatten wir bereits Verträge mit Eurovision und mit Cheboksary zur Durchführung der Superliga der Team-EM abgeschlossen. Deshalb sagten wir: "Sorry, für 2015 ist es nicht möglich. Die Leichtathletik wird nicht dabei sein." Außerdem ist es schwierig, ein weiteres Event im Kalender unterzubringen. Wir haben auch mit dem Leichtathletik-Verband von Aserbaidschan gesprochen, der in einer schwierigen Situation war. Durch die Entscheidung, die Leichtathletik nicht in die European Games 2015 einzubauen, gab es keine Notwendigkeit, im neuen Stadion eine Laufbahn und Leichtathletikanlagen zu errichten. Deshalb haben wir später entschieden, die Team-EM der 3. Liga in die European Games einzubringen, um mit der Leichtathletik bei dieser Veranstaltung präsent zu sein.

Wie wird die Position von European Athletics für die nächste Auflage 2019 sein?

Wir müssen offen sein dafür und sehen, was wir gemeinsam machen können. Es müssen erst Austragungsorte gefunden werden. Das wird nicht einfach. Ich kann jetzt noch nicht sagen, ob es ein stärkeres Engagement der Leichtathletik 2019 geben wird. Wir werden sehen, wie die erste Veranstaltung läuft. Wir werden nach den European Games 2015 die Gespräche mit dem Europäischen Olympischen Komitee fortführen.

Was wird ihr wichtigster Fokus, wenn Sie Präsident von European Athletics werden sollten?

European Athletics ist ein Verband von Verbänden. Wir müssen viel näher an den nationalen Verbänden sein als jetzt, um ihnen zu helfen. Dafür werde ich mich sehr einsetzen. Wir müssen überlegen, wie wir helfen können, mehr Athleten zur Hochleistung zu bringen. Das Thema Gesundheit und Wohlbefinden ist ein ganz wesentlicher Bereich zur Entwicklung. Hier können die Verbände mehr Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Geld von den Regierungen und Institutionen finden und mehr Mitglieder gewinnen. Und wir müssen am Budget von European Athletics arbeiten. Vielleicht müssen wir enger mit der Europäischen Union kooperieren. Wir können derzeit aber, da unser Sitz in der Schweiz ist, keine Projekte bei der EU einreichen, obwohl es von der EU Finanzierungsmöglichkeiten im Bereich Gesundheit gäbe. Das wäre eine große Hilfe für uns und die Mitgliedsverbände.

Im Bereich des Gesundheitssports passiert sehr viel – Stichwort Laufsport. Jedes Wochenende nehmen zehntausende Menschen bei Marathons oder anderen Veranstaltungen teil. Sollen sich Leichtathletik-Verbände darin stärker engagieren?

Ja. Straßenlauf ist Leichtathletik - nicht jeder versteht das. Wir müssen das vielen Mitgliedsverbänden erklären. Ein 10 km Straßenlauf gilt für viele nicht als Leichtathletik, auch innerhalb unserer Bewegung. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen den Verbänden und Laufveranstaltern stärken. Wir können als Verbände nicht hergehen und sagen: „Wir sind der Boss“ - das ist lächerlich. Wir müssen an einer Win-Win-Situation arbeiten. Das ist sehr wichtig und ein langer Weg. In einigen Ländern existiert noch keine Straßenlaufszene. Aber in den westlichen Ländern gibt es die Straßenläufe seit langem. Hier hat der Zug die Station bereits verlassen, und wir müssen versuchen ihn wieder einzuholen.

Mit Günther Weidlinger wird ein Österreicher der neuen EA-Athletenkommission angehören. Welche Rolle spielt diese Vertretung?

Athleten sind das Zentrum des Sports. Das Leben von Athleten hat sich gegenüber meiner aktiven Zeit drastisch geändert. Ein Athlet von früher hat nichts mehr zu tun mit den Athleten von heute, obwohl sie immer noch laufen, springen, werfen und gehen. Ein Athlet heute muss ausgebildet sein, um in jeder Situation mit den Medien zu sprechen, ob er gewinnt oder verliert. Es wird erwartet, dass er freundlich ist und den Sport repräsentiert. Wir müssen auf die duale Karriere der Athleten achten, weil die Zeit im Sport nicht lange dauert. Leichtathleten verdienen keine Millionen wie in anderen Sportarten. Sie müssen an die Zukunft denken. In diese Richtung müssen wir zusammenarbeiten, das ist auch eine Aufgabe für die nationalen Verbände.


Bilder: GEPA pictures (4), Plohe (1), Bryan Reinhart (1), Zürich 2014 (1), ÖLV (3)

ÖLV | 17.11.2014

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