U20-WM: Innenansichten aus Barcelona (Freitag)

Das Zusammensein mit einer U20-Mannschaft ist etwas Besonderes. Zwar haben die Jugendlichen gleich wie U40-AthletInnen ihre persönliche Individualität und erleben Freude und Enttäuschung mit unterschiedlichen Resonanzen. Aber 18- und 19-Jährige sprudeln so angenehm vor Hoffnung. Nicht die nächste Weltmeisterschaft oder die nächsten Olympischen Spiele sind die Horizontgrenze, sondern die nächsten zwei, drei oder gar vier. Die Zukunft ist noch offen und die Vergangenheit noch nicht durchgesessen. Die Leistungen von JuniorInnen verbessern sich nicht um Zentimeter, sondern um Dezimeter oder Meter, sie steigern ihre Laufzeiten nicht um Hundertstel, sondern um Zehntel und Sekunden. Bei gutem Training gibt es kein Stagnieren in jungen Jahren, und das Vertrauen in die Kompetenz des Trainers ist gut verklebt. Der gesamte Horizont der Karrieremöglichkeit ist weiter gesteckt als bei den „Etablierten“. Die Frische, die JuniorInnen ausstrahlen, macht das Zusammensein mit ihnen kostbar. Ohne die TrainerInnen in den Zeugenstand zu rufen, weiß ich, dass auch für sie die Arbeit mit der Jugend große Freude macht.

Unbekümmert von Statistiken
Eva-Maria Wimberger ist dazu ein gutes Fallbeispiel. Sie kommt mit 14,17 sec. als Langsamste der Liste zu ihrem Vorlauf über 100 m Hürden. Victoria Schreibeis, die viel internationale Erfahrung hat, hat sie auf den Lauf gut eingestellt. Und Eva kümmert sich gar nicht um irgendwelche Zeitstatistiken. Sie kommt blitzschnell aus dem Startblock und lässt mit 14,11 sec den Hürdenwald und drei Athletinnen hinter sich. Darunter ist auch die Finnin J. Hanski, die mit gut unterbutterten 13,17 sec. im Gepäck angereist war. Eva ist mit ihrer Performance sehr zufrieden. Wir auch.

Gänsehaut beim Rekord
Jetzt die Fallbeispiele zwei und drei. Es stehen die Vorläufe über 800 m auf dem Vormittagsprogramm. Nikolaus Franzmair steht auf der Bahn, schnürt sich nochmals die Schuhe und trinkt einen Schluck. Seine Nervosität ist spürbar. Nach dem Start reiht er sich in der Karawane der Läufer ganz hinten ein und spart Kraft. Nach 400 m liegt er nicht mehr hinten, sondern beginnt aufzuholen. Allein auf seine Spurtkraft möchte er auch nicht vertrauen. Nach 500 m steigt er neuerlich aufs Gas und spurtet auf die vorderen Ränge. Dann beginnt sein Kampf auf der Zielgeraden. Ich bekomme Gänsehaut wie das Profil der Hohen Tauern. Niki liefert ein ganz großes Finish und fixiert einen neuen österreichischen U18-Rekord. Die Zeit von 1:49,31 min. bedeutet dann auch das Ticket für das morgige Semifinale. „Niki hat alles richtig gemacht“, schwärmt Wolfi Adler, sein Trainer. „Er hat die umkämpfte Innenbahn gemieden, im richtigen Moment attackiert und seine Kraft und Schnelligkeit gut balanciert. Eine feine taktische Leistung.“

Der glücklichste Vierte
Dann noch Dominik Stadlmann. Er ist im vierten Vorlauf dran und legt es anders an. Geschickt nützt er die Innenbahn, die er über beiden Runden nicht aufgibt. 200 m lang zieht er wie eine Lokomotive den Zug durch das Stadion. Dann kommt im Feld Ungeduld auf, und der Lauf wird beschleunigt. Dominik hat kein Problem mit der Spitze mitzugehen. Den Showdown auf den letzten 120 Metern will er keinesfalls versäumen. Und wie! Er lässt noch vier Läufer mit besserer Eingangszeit trost- und ratlos hinter sich und wird Vierter. Der Äthiopier Belete hat irgendwo gesündigt und wird qualifiziert. Dominik wird vorgereiht und ist ebenfalls für das Semifinale über 800 m qualifiziert.

Schmerzen, (Un-)Sinn und Vernunft
Für Ivona Dadic beginnt der zweite Tag des Siebenkampfes mit dem Weitsprung. Es wird ein Weitsprung mit Schmerzen werden. Seit Montag laboriert Ivona an einer Muskelverhärtung. Jan Siart leistet jeden Tag über Stunden immense Arbeit, um unsere Medaillenhoffnung fit zu bekommen. Von Wettkampf zu Wettkampf schafft er das Wunder, dass Ivona überhaupt in die Bewerbe gehen kann. Mit dieser physischen und psychischen Belastung sind ihre 5,98 m im Weitsprung eine Meisterleistung. Ivona macht damit wieder einen Platz gut und nimmt jetzt den 10. Rang in der Siebenkampfliste ein.

Über Mittag probiert unsere Medizinabteilung weiter, Dadic den Muskelschmerz zu reduzieren. Bald geht es um die Entscheidung, wo der Unsinn des Weitermachens aufhört und der Sinn des Aufhörens beginnt. Eine flachgeistige Entscheidung ist nicht gefragt. Ivona ist eine Weltklasseathletin, hat enormes Potential und ist für die Olympischen Spiele qualifiziert. Wozu da eine grobe Verletzung riskieren? Wer übernimmt diese Verantwortung? Ivona wird vor dem Speerwurf aus dem Heptathlon genommen. Eine kluge Entscheidung. Niemand spielt den Schutzpatron der Ahnungslosen, die vielleicht aufs Weitermachen plädieren wollen. „Die Entscheidung, Ivona aus dem Wettkampf zu nehmen, wurde mit Vernunft und zum spätest möglichen Zeitpunkt gefällt“, sagt Wolfgang Adler. Er streut Dadic Rosen, dass sie trotz Handicap so tolle Leistungen in den einzelnen Bewerben gebracht hat.

Morgen
Es war wieder ein guter Tag in der Juhu-Abteilung. Bereits fünf JuniorInnen aus der rotweißroten Republik haben ein Semifinale erreicht. Morgen ist wieder ein großer Tag. Kira Grünberg im Staberlfinale, Niki Franzmair und Dominik Stadlmann im 800-m-Halbfinale und dazu noch eine Staffel über 4 x 400 m. Deren Mix wird muss erst geschüttelt und gerührt werden.


Foto: Jean-Pierre Durand


 

Herbert Winkler | 13.07.2012

submit BugReport | Programming by Stefan Walkner 2006 | Design by RK | Impress