U20-WM: Innenansichten aus Barcelona (Mittwoch)

Laut Statistik sind bei dieser Junioren-WM an die 180 Nationen vertreten. Etwa 1.730 Aktive sind genannt. Für den eingeborenen Barcelonesen hat die Meisterschaft keinen besonderen Stellenwert. Im Mittelpunkt seines Sportinteresses steht einzig der F.C. Barcelona. „Barca“, so die liebevolle Abkürzung, ist mehr als ein Club für die Ansässigen. Der Verein ist auch Ersatzreligion und ein Symbol für die Unabhängigkeit Kataloniens, insbesondere wenn es politisch gegen den Zentralismus in Spanien und sportlich gegen den Rivalen Real Madrid geht. Es gibt etwa 250 Fanclubs in Katalonien, und man zählt über 160.000 Mitglieder. Der Mitgliedsbeitrag beträgt ca. 110 Euro jährlich.

Higgs-Teilchen am Morgen
Beim Frühstück wird nochmals der gestrige Tag besprochen. Lukas Wirth philosophiert über weiche und harte Stäbe und sein Trainer Grünberg zerlegt den komplizierten Stabhochsprung in Einzelteile. Für mich als Außenstehenden breitet sich eine komplexe, magische Welt aus. Der perfekte Stabhochsprung ist gleich aufwändig wie die Suche nach dem Higgs-Teilchen. Das Resümee des Gesprächs war, dass Lukas in jedem Fall den österreichischen Juniorenrekord von 5,12 m überbieten wird.

Im Stadion haben sich um 9.30 Uhr die weltweit besten Geherinnen auf die 10-Kilometer-Strecke gemacht. Von den 34 „Wackelkandidatinnen“ macht die Russin E. Medvedeva mit 45 Minuten die schnellste Figur. Wie gut, dass auch diese Disziplin noch gepflegt wird, obwohl ich den Verdacht nicht loswerde, dass hier den Orthopäden in die Hände gegangen wird.

Bald darauf nehmen uns Carina Schrempf, Ines Futterknecht und Thomas Kain ins Stadion und ins Gefühlscasino mit. Für die drei geht es über eine Stadionrunde. Ines und Carina starten ohne, Thomas mit Hürden. Einer der drei sollte eine Runde weiterkommen. So hat es Christian Röhrling geplant. Ihn plagt seit Tagen der Stoffwechsel, und nur ein weiterer Erfolg könnte ihn kurieren.

Irdnische Sprintbahnen
Carina Schrempf kommt aus Irdning/Stmk, fand über die Schule zum Laufen und fällt im Team durch ihre bescheidene Unauffälligkeit auf. Sie wird von Edi Holzer trainiert. Demnächst wird sie nach Krems übersiedeln und bei Edi das Training im Sprintbereich intensivieren. Im Ennstal findet sich nur eine Laufbahn mit Löchern, Straßenschwellen und Fallgruben.
„Carina ist ein Riesentalent. Sie hat sich in kurzer Zeit über 400 m um vier Sekunden gesteigert und macht hier in Barcelona ihre internationale Aufnahmeprüfung“, freut sich Eduard. Und die besteht sie mit „Sehr gut“. Carina hat die undankbare Außenbahn und beginnt daher gleich engagiert ins Tempo zu kommen. Schon auf der Gegengeraden und in der Zielkurve bleibt sie auf Kurs und kämpft dann in der Zielgeraden mit dem Gegenwind. Die Uhr bleibt für sie bei 54,73 sec. stehen. Großartig. Sie hat damit ihre persönliche Bestzeit gleich um 22 Hundertstel unterboten und schrammt nur knapp am Einzug ins Semifinale vorbei.

Eine Minute, nein, kürzer!
Gleich darauf geht auch Ines auf die Stadionrunde. Ihre aktuelle Primezeit über 400m ist 54,76 Sekunden. Futterknecht ist ein Name aus der Fünfstern-Leichtathletik. Sowohl Mutter Gerda (ehemals Haas) wie auch Vater Thomas halten den österreichischen Rekord über die 400m Hürden. So ein gut dotiertes Genpool kann auch eine Belastung sein. „Ines ist nicht die Nervenstärkste und hatte mit der Matura und dem Training für Barcelona eine Doppelbelastung. Aber ich freue mich, dass sie in diesem Stadion die Atmosphäre einer Weltmeisterschaft miterleben kann“, sagt Gerda Futterknecht, springt auf und feuert Ines eine Minute lang an. So lange braucht die Tochter gar nicht. Ines läuft ein couragiertes Tempo, kämpft auf der Zielgeraden gegen den Wind und kommt mit 55,16 Sekunden ins Ziel. Das ist ihre bisher zweitbeste Leistung. „Ines steht erst am Anfang ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und ist sehr ehrgeizig. Sie war heute schon am Morgen extrem aufgeregt und nervös. Das kostet ihr dann beim Rennen Substanz“, resümiert Victoria Schreibeis, ihre Betreuerin. Am Samstag nimmt Ines wieder 400m unter die Beine und wird dann unsere 4 x 400m Staffel verstärken.

Zwischen Adrenalin und Milchsäure
Die Hoffnungen für den Aufstieg ins Semifinale ruhen jetzt auf Thomas Kain. Für dieses Ziel fehlt es ihm auch nicht an Eindeutigkeit. „Ich bin gut trainiert, habe ein tolles Verhältnis zu meinem Trainer und überhaupt passt alles“, sagt Thomas schon vor dem Lauf. Mit dieser Überdosis Selbstbewusstsein schüttet er sich vor dem Start Wasser auf das Genick und klemmt sich auf der Innenbahn in die Startmaschine. Im Lauf lässt er keinen Zweifel, dass er das Semifinale erreichen wird. Er hat alle Gegner vor sich und kontrolliert sie und sich gut. Thomas ist mit Adrenalin gestartet und wechselt auf der Zielgeraden auf Milchsäure. Sein Kampf beschert Gänsehaus. Thomas wird sicherer Dritter und morgen Mittag beim Halbfinale über die 400 m Hürden dabei sein. Damit müsste auch der Bauch von Christian Röhrling endlich geheilt sein.

Fahnenschwenken im Semifinale
Am Abend steigt nochmals die Spannung. Rosalie Tschann hat sich gestern fulminant für das Semifinale qualifiziert und kann es nicht erwarten, nochmals eine Topleistung auf die Bahn zu trommeln. Heute wird es viel schwerer, nochmals weiter zu kommen. Rosalie ist wieder voll motiviert, erwischt aber den Start nicht optimal. Sie kommt am langsamsten aus der Startmaschine, dann aber gut in die Gänge. Die Gegnerinnen sind aber zu stark und Rosalie belegt den siebenten Rang. Die Siegerin aus Brasilien läuft 11,42 sec. Die anwesende Familie Tschann schwenkt die Österreichfahne und freut sich über die Leistung. „Eine Zeit unter 12 Sekunden ist immer bewundernswert“, jubelt der Vater und dazu hatte er gestern und heute guten Grund. Ich bin schon gespannt, welche Freude uns die Vorarlbergerin in Barcelona noch bereiten wird. Gleich morgen wird sie über 200m starten. Auch Kira Grünberg und Ivona Dadic steigen am Donnerstag in die Wettkämpfe ein. Und Thomas Kain geht neuerlich auf die 400-m-Hürdenstrecke. Die Sonne hat schon heute dazu ihr bestes Lächeln angekündigt.


 

Herbert Winkler | 11.07.2012

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