Berlino, Bolt & Co

Stimmen und Eindrücke von (österreichischen) Besuchern bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin

In Berlin wird aufgeräumt und Bilanz gezogen. Die 12. IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaft ist Geschichte. Manches Ereignis wird als „historisch“ gelten. Usain Bolt ist in den meisten Rückblicken die Nummer 1, aber er ist nicht das Einzige, was die 12. IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin ausgemacht hat.

Unzählige Zuschauer, und doch zu wenig
Wenngleich manche leere Plätze im Olympiastadion nicht schön wirkten: Auch bei 30.000 Zuschauern am Vormittag war die Atmosphäre ohrenbetäubend. Das randvolle Stadion am Samstagabend mit 59.926 Zuschauern betörte die Sinnesorgane wie nur was. Beim Marathon der Männer waren 700.000 an der Strecke und im Ziel, bei den Gehbewerben bis zu 100.000. Die Fernsehquoten in Deutschland waren hervorragend. Die Website iaaf.org war am Freitagabend, als Usain Bolt die 200 Meter lief, weltweit der am zweithäufigsten besuchte Internet-Knotenpunkt. Die Gründe für zuwenig Zuschauer im Stadion liegen wohl an den Preisen und mangelnden Aktionen für Vereine und Gruppen. Als zumindest höchst unsensibel muss die Vorgangsweise der IAAF im Fall der 18-jährigen südafrikanischen 800m-Läuferin Semenya Caster gesehen werden. Bei ihr wird eine Geschlechtsuntersuchung feststellen, ob sie eine junge Frau oder ein junger Mann ist. Dass diese Tatsache an die Öffentlichkeit gebracht wurde oder auch nur gelangen konnte, Wochen bevor ein Ergebnis feststeht, ist beschämend.

Berlino, Bolt & Co.
Es gab aber viele packende, berührende und lustige Momente, die das Gesicht der Weltmeisterschaft ausmachten. Ein Geburtstagsständchen für Usain Bolt im vollen Stadion gehörte ebenso dazu wie „Heidi, deine Welt sind die Berge“ als Song für die Schweizer Siebenkämpferin Linda Züblin. Natürlich „Berlino“, das Bärenmaskottchen, der mit seinen Jubelszenen auf der Laufbahn zum WM-Liebling avancierte. Die Stimmung im Stadion war Extraklasse. Stars wie die deutsche Hochspringerin Ariane Friedrich konnten mit einer Fingerbewegung das Publikum zum Schweigen bringen – und im nächsten Moment zum Ausbruch aller Emotionen. Der Erfolg der deutschen Sportler haben im Veranstalterland und im Stadion mindestens so viel zur Stimmung beigetragen wie Usain „Who Faster?“ Bolt. Dazu wird den Berlinern das Verdienst bleiben, die Marathons mit ihrer Partystimmung für Hunderttausende mitten in die Stadt geholt zu haben.

„Tolle WM mit einem fairen Publikum“
„Es war eine tolle Weltmeisterschaft mit viel Flair in einer zeithistorischen Metropole und einem phantastischen und fairen Publikum. Ein absoluter Höhepunkt für die Welt-Leichtathletik“, resümierte ÖLV-Präsident Hans Gloggnitzer. „Usain Bolt hat Rekorde zertrümmert, obwohl man jahrelang geglaubt hat, dass schon der Plafond erreicht ist und es nur mehr um minimale Steigerungen geht. Ich bin überzeugt, dass Bolt auch auf den 400 Metern etwas Vergleichbares leisten wird und eine Marke vorlegen kann, die lange Zeit besteht. Er ist genetisch hervorragend veranlagt, hat tolle Hebel vereint mit sehr viel Kraft. Im Langstreckenlauf ist die Dominanz von Kenia und Äthiopien noch stärker geworden. Generell ist wichtig, dass Schritte dazu gesetzt werden, überall nach gleichen Maßstäben auf Doping zu kontrollieren. Europa ist in jenen Disziplinen gut vertreten, die sehr betreuungsintensiv sind: vor allem in den Wurfdisziplinen und im Mehrkampf. Es sind nur Nationen vorne, wo von der Schule und Jugend an mit den Leuten die Grundsportarten gemacht werden, weil es als wichtig für die Gesellschaft, die Gesundheit und die Darstellung des Landes gesehen wird und deshalb auch finanziert wird. Dazu braucht es die volle Einsatzbereitschaft der Sportler. Vor dem Computer wird man nicht zum Spitzensportler.“

„Bolt hat alles überlagert“
Wolfgang Gotschke, Leiter des Sportbüros von Sport- und Verteidigungsminister Norbert Darabos, hat ab Donnerstag die WM in Berlin verfolgt: „Die Weltrekorde von Usain Bolt haben alles überlagert. Den Lauf über 200 Meter habe ich live im Stadion gesehen. Solche Typen braucht der Sport, er bewegt die Massen, er ist sehr zugänglich. Was mir sehr gut gefallen hat waren die Marathons in der Stadt. Das hat die Leute mobilisiert. Dazu gab es am Samstag den Volkslauf auf der WM-Strecke, so etwas ist sehr motivierend und bindet die Leute ein. Für die Veranstalter und die Stimmung war es natürlich gut, dass die Deutschen viele Medaillen gewonnen haben. Es war wirklich bewegend zu sehen, wie Ariane Friedrich im Hochsprung vor ihren Versuchen den Finger auf die Lippen legt und das ganze Stadion wurde still. Die Stadionsprecher fand ich zu zurückhaltend. Da könnte man für mehr Stimmung sorgen. Insgesamt ist die Leichtathletik-WM eine faszinierende Veranstaltung. Ich würde so etwas sofort wieder anschauen.“

„Das war Weltklasse“
Toni Schutti, Geschäftsführer der Österreichischen Sporthilfe, war ebenfalls beim „WM-Finale“ der letzten Tage live im Stadion und auf den Straßen der Innenstadt: „Es ist wichtig zu sehen, wie sich die Leichtathletik generell entwickelt. Die Stimmung im Stadion fand ich sehr gut. Es geht wirklich unter die Haut, wenn man Bewerbe wie den Damen-Hochsprung live verfolgt. Bei den deutschen Teilnehmern gehen die Zuschauer voll mit, es ist aber ein sehr fachkundiges und faires Publikum. Auch der Marathon in der Stadt war phantastisch: Tolle Stimmung, toll inszeniert, auf historischem Boden vor dem Brandenburger Tor – das war Weltklasse! Von den Österreichern war natürlich Gerhard Mayer die positive Überraschung. Allgemein ist es schade, dass wir nicht in mehr Disziplinen Leute mit mehr Erfolg dabei haben. Dass die Plätze im Stadion nicht an allen Tagen gut gefüllt waren, liegt an der Preispolitik.“

WM-Marathons im Herzen der Stadt
Horst Milde, Begründer des Berlin Marathons, freute sich während des Marathonlaufs der Männer über die grandiose Stimmung: „Ich habe der IAAF vor fünf Jahren vorgeschlagen, den Marathon zur Gänze in der Stadt zu machen und nicht wie sonst bei Weltmeisterschaften üblich, Start und Ziel im Stadion zu haben. Die haben mich zuerst fragend angeschaut. Es ist dann seinen Weg gegangen und die IAAF hat sich angefreundet damit. Ich glaube, dass die Marathons als ein WM-Highlight in Erinnerung bleiben werden. Es ist ein wunderbares Gefühl, diese Stimmung zu sehen. Das Berliner Publikum haben wir ja schon 30 Jahre lang hintrainiert darauf. Die mögen das.“ Zum ersten Mal in der Geschichte von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen wurden in Berlin die Marathonläufe und das Gehen mit Start und Ziel außerhalb des Stadions ausgetragen. Bei den Marathons wurde ein 4-Runden-Kurs vorbei vielen bekannten Plätzen der Stadt durchlaufen. London hat für 2012 ein ähnliches Konzept. Der Erfolg der Berliner Premiere verspricht schon jetzt, dass auch der Olympiamarathon etwas ganz Besonderes wird. Auch Daegu, koreanischer WM-Schauplatz 2011, überlegt nun einen City-Kurs.

„Die Leichtathletik ist nicht tot, sie setzt bloß auf die falsche Medizin“
„Wenn nicht einmal der Mann, dem kein Rekord zu groß ist, ein Stadion füllen kann, wer soll dann künftig noch die Menschen zum Staunen bringen?“, fragt der Journalist Boris Hermann in der Berliner Zeitung und sieht Grund, sich um die Leichtathletik Sorgen zu machen. Die Gleichzeitigkeit von Siebenkampf-Finale mit der Deutschen Jennifer Oeser, die sich nach einem Sturz im 800m Lauf zurück kämpfte und noch Silber holte, und dem Start des 100m-Endlaufs mit Usain Bolt am Sonntag, 16. August, veranlasste ihn zu folgenden Zeilen, beginnend über Jennifer Oeser: „Es handelte sich hier um eine weitgehend unbekannte Sportlerin einer unterbelichteten Sparte, die auf keinem Plakat und in keiner Kampagne auftaucht, die aber die Zuschauer mit ihrem Kraftakt so elektrisierte, dass diese für einige Minuten den wartenden Witz-Bolt vergaßen, ja sogar pfiffen, als Oeser protokollgerecht von der Bahn geschoben wurde. Niemand wollte mehr, dass der Wettkampf begann, auf den alle so lange gewartet hatten. Diese Pfiffe waren bislang der wichtigste Moment dieser Weltmeisterschaft. Er zeigte: Die Leichtathletik ist nicht tot. Sie setzt bloß auf die falsche Medizin. Es ist nicht der Kampf zwischen Mensch und Zahl, der diesen Sport ausmacht, sondern der zwischen Mensch und Mensch. Rekorde werden durch neue Rekorde ersetzt, Erzählungen bleiben.“

Sporthighlight des Jahres
Dass es für eine Leichtathletik-Weltmeisterschaft ganz andere Andockstationen gibt, zeigen die ÖLV-Teilnehmer am U23-Länderkampf zwei Tage vor Eröffnung der WM, oder die Tausenden Volunteers, die in vielen Funktionen gearbeitet haben. So etwa Martina Stiebellehner aus Wien: „Ich war vor einem Jahr bei der EURO als Helferin dabei. Das Volunteer-Leben hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mich für die Leichtathletik-WM gleich wieder beworben habe. Als Studentin kann ich das in der Ferienzeit machen. Es ist eine tolle Sache und Erfahrung, bei einem solchen Event dabei zu sein.“

Das Berliner Olympiastadion wirkt von Außen monumental, Ehrfurcht gebietend, abweisend: „Jetzt weiß ich erst, wie Jesse Owens hier gefühlt haben muss, als er 1936 als Schwarzer hier antreten musste“, sagte eine US-amerikanische Diskuswerferin. Im Innenraum erzeugte es jedoch eine fast entrückte Stimmung. Tiefblaue Bahn, grüner Rasen, volle Zuschauerränge und orange leuchtendes Abendlicht über der Dachkonstruktion. Jetzt, da die Leichtathleten wieder entschwunden sind, ist klar, dass die WM ihrem Status als weltweites Sporthighlight des Jahres voll gerecht geworden ist.

Fotos: Lilge, Maier


 

Andreas Maier | 24.8.2009

submit BugReport | Programming by Stefan Walkner 2006 | Design by RK | Impress