Turin aus der Sicht eines Fans (1. Tag)

Turin hat etwa eine Million Einwohner. Auskenner assoziieren die viertgrößte Stadt Italiens mit dem Fußballklub Juventus und der Automobilfirma Fiat. Im Jahr 2006 war Turin Olympiastadt und nun soll sie sich drei Tage lang als Veranstaltungsort bei der Hallen-Europameisterschaft bewähren. Es fängt aber ziemlich nass an. Wettermäßig war es gestern nicht italienisch, sondern very british. Es hat geregnet, als wären drei Monate Dürre wettzumachen. Für die Stimmung im österreichischen Team spielt das aber keine Rolle. Alle sind gut drauf. Keiner klagt über Wehwehchen. Lediglich unser Teamarzt Dr. Lanz hatte gestern eine Magenverstimmung mit Alt-Fischgeschmack. Heute ist er wieder fit. Bei manchem Trainer macht sich phantasievoller Optimismus breit. Es werden tolle Platzierungen unserer Topsportler prophezeit, und einige flüstern sogar über Medaillenränge. Warum nicht? Euphorie ist immer ein guter Nährboden für Motivation und Power. Für mich sind ohnehin alle, die die Qualifikation geschafft haben, Helden.

Kreischen und Trampeln im Kopfbahnhof
Die Halle in Turin ist ein Mittelding zwischen Kopfbahnhof und Messehalle. Nicht unsympathisch. Die Bahn hat enge Kurven und dafür zwei längere Gerade. Bettina Müller-Weissina stellt schon am Donnerstag dem Belag ein gutes Zeugnis aus und auch Andi Rapatz meinte, dass sich die Bahn schnell unter den Füßen anfühlt. Doch die Nagel- bzw. Spikeprobe dafür gibt es erst heute.

Um 9:30 Uhr beginnt das Spektakel. Die Italiener füllen die Ränge mit Grundschulklassen, die hier den Pflichtgegenstand „Kreischen und Trampeln“ absolvieren. Speziell, wenn italienische Athletinnen und Athleten aufgerufen werden. In der Sektion Österreich sind nun auch einige Väter dazugekommen. Zum Beispiel Alfred Zeller und Josef Steinbauer. Vater Zeller war von Krems bis Turin 12 Stunden unterwegs.

Vater Zeller nerverlt
Mit den Hürdenläufen wird der Tag eröffnet. Sie dienen mir bestenfalls zum Warmschauen. Denn so richtig spannend wird es erst um 11:15 Uhr. Der Vorlauf über die 400m der Männer steht auf dem Programm und Clemens Zeller auf Bahn fünf. Johan Wissman aus Schweden startet auf der Außenbahn. Vater Zeller nerverlt herum und putzt zum dritten Mal seine Brille. Gleich nach dem Schuss zeigen Wissman und Clemens, wo in diesem Lauf die Musik spielt. Nämlich ganz vorne. Beide laufen kontrolliert vor den anderen vier und spielen am Ende noch mit dem Tempo. Ich kann nicht erkennen, wer im Ernstfall der Stärkere wäre. Clemens gibt sich mit dem zweiten Platz zufrieden. Zeller Senior strahlt vor Stolz und braucht jetzt ein Bier. Ich auch.

Vater Steinbauer ist nicht ansprechbar
Nach dem Auftritt der XX-Large-Frauen im Kugelstoß und den Damen mit den langen Beinen im Weitsprung sind die 3000m-Vorläufe der Männer auf dem Plan. Im ersten ist Martin Steinbauer dran. Vater Josef sitzt auf der Tribüne in der ersten Reihe und ist nicht ansprechbar. Gebannt schaut er in die Arena. Martin weiß, dass er – will er im Finale dabei sein – sich nicht auf den Endspurt verlassen darf. Er muss schon vorher Tempo machen. Und das macht er auch. Vorerst an fünfter Position, dann an zweiter, übernimmt er bald couragiert die Führung und zieht das gesamte Läuferfeld durch die Runden. Josef Steinbauer strahlt und ist stolz. Auch dann noch, als Martin seine Positionen sukzessive aufgeben muss und ans Ende des Feldes gelangt. Der Verkühlungsvirus der Winterwochen holt sich nochmals seinen Tribut. Zwei Läufer überholt „Steini“ noch (die dann entnervt aufgeben) und passiert mit 8:08,03min. das Ziel. Er hat gekämpft bis zum Ende. Es fehlen nur drei Sekunden auf den Finaleinzug. Vater „Steini“ ist sowieso stolz.

Vater Pröll wechselt von bleich auf weiß
Gleich darauf ist Martin Pröll an der Reihe. Auch hier schwitzt Vater Manfred mit, der ja zugleich der Trainer ist. Martin hält lange Zeit den vierten Platz und zieht kraftvoll seine Runden. Gegen Schluss des Rennens wird es aber haarig. Die Stars drücken mächtig aufs Tempo und Martin wird rückgereiht. Pröll senior verliert die Gesichtsfarbe und wechselt von bleich auf weiß. Es scheint schon alles verloren. Doch plötzlich wandelt sich die Szene auf der Laufbahn. Martin steigt auch aufs Gas und legt ein kampfstarkes Finish hin. Ich schaue mich einstweilen um den Defibrillator für den Vater um. Bei 8:04,84min. bleibt die Uhr für den Oberösterreicher stehen. Bange Minuten für uns alle. Dann die Erlösung. Martin Pröll wird im Finale über 3000m dabei sein.

Unbefriedigender Bummelzug
Am Nachmittag galt es die Daumen für Andreas Rapatz zu drücken. Weder Verwandtschaft noch Trainerin fiebern in der Halle mit. Er hat vier Runden gebucht und will diesmal die 800m besser gestalten als bei der Hallen-EM in Birmingham 2007. Bald nach dem Start sitzt Andi im Bummelzug, was ja nicht unangenehm, aber unbefriedigend ist. Rapatz übernimmt zwar die Spitze, macht den Lauf aber auch nicht ungemütlicher. Das gefällt dann den anderen drei nicht, und sie beginnen zu attackieren. Mehrmals wehrt Andi die Überholmanöver ab, dann kommen alle drei an ihm vorbei. Obwohl er nochmals beschleunigt, bleibt er bis zum Schluss an vierter Stelle. Aus der Traum vom Semifinale. Schade. Die Fehlersuche lassen den Lauf zwar hoffnungsvoller, aber nicht realer werden.

Das Blut blubbert an der Hörgrenze
Dann kommt nochmals Clemens Zeller dran. Allein, wie er selbstsicher das Stadionoval betritt, lässt Gutes erahnen. Er ist seit Birmingham zu einer sportlichen Persönlichkeit gereift. Das sieht man an der Körpersprache. Bei Vater Zeller blubbert trotzdem das Blut an der Hörgrenze. Er ist nervöser als beim Vorlauf. Der Semifinallauf lässt aber keinen Zweifel offen. Clemens setzt sich von Beginn weg an die zweite Stelle und gibt diese nicht mehr her. Er kommt souverän ins Finale.

Es war ein feiner Tag in Turin. Zwei österreichische Finaleinzüge und ein Motivationsschub für die, die erst in die Wettkämpfe eingreifen werden. Sogar der Regen ist verschwunden und die Sonne hat sich gezeigt. Ich freue mich schon auf morgen.
 

Herbert Winkler | 6.3.2009

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